Lassen lernen

Ge-lassen-heit, wie gut wäre es doch, in konfliktreichen Momenten gelassen zu bleiben, wenn uns Missverständnisse, Vorwürfe oder Forderungen treffen oder uns Ereignisse an belastende Erlebnisse in der Vergangenheit erinnern. Wie soll man da gelassen bleiben, wenn das Leben einen das so unter die Nase reibt?

Der erste Impuls geht dann meistens nach außen und projiziert die innere Spannung auf das Gegenüber, die Umstände, die Welt oder was auch immer. In der Regel reagieren wir mit körperlicher Erregung und länger anhaltenden mentalem Stress. Ist der Schuldige gefunden, hat man in der Opferrolle viele Gelegenheiten, Anteilnahme anderer und Rechtfertigungen für Aktionen zu finden, welche über kurz oder lang für Entlastung sorgen sollen. Daran ist nichts verkehrt, so funktioniert unser Säugetierkörper eben. Er will Schmerz vermeiden und strebt nach Wohlbefinden und Sicherheit, jetzt und in der Zukunft. Deshalb vergleicht unser Gehirn permanent die Gegenwart mit Erlebnissen der Vergangenheit, um uns in sicherem Terrain zu halten und unser Überleben als Körper zu gewährleisten. Gleichzeitig lernen wir durch Herausforderungen aber auch gegebene Grenzen mit wachsender Kompetenz zu erweitern. Deshalb ist diese Art Stress ja auch so wichtig für unsere menschliche Entwicklung. Lebendig sein heißt an Stress wachsen.

Gelassenheit meint somit nicht, diesen physiologischen Entwicklungsstress zu vermeiden, sondern der Geschichte, welche wir uns selbst darüber erzählen nicht mehr ständig zu folgen. Als erwachsene Menschen haben wir die Möglichkeit uns bewusst zu werden, ob die körperlich-emotionale Erfahrung zur gegenwärtigen Realität passt oder eben nicht. Die dazu erforderliche Präsenz im Hier und Jetzt, mit seiner bezeugenden Wahrnehmung, ist allerdings erst erfahrbar, wenn aktive Überlebensmechanismen innerer Persönlichkeitsanteile gesehen und gewürdigt werden. Vielleicht fragst du dich jetzt, was du dafür tun kannst?

Dafür ist es wichtig ein paar wesentliche Zusammenhänge zu erkennen. Als Kind waren wir von unseren Eltern oder Betreuern vollkommen abhängig. Spüren und Fühlen dienten als Instrumente, um in dieser Umgebung einen sicheren Platz zu finden. Später als Jugendliche/r übernahm das Denken die Führung und fühlen und spüren rückten mehr in den Hintergrund. Wir mussten über Vorstellungen, Ideen und Ziele unseren eigenen Lebensraum als Ich in dieser Welt erschaffen, um uns vom Elternhaus zu lösen. Das ging in dieser Lebensphase nicht anders und gab uns, neben anderen inneren Prozessen, die dazu notwendige Sicherheit. Das Problem ist, dass uns diese Bewegung in gewisser Weise von uns selbst und der Gegenwart entfernt. Die kindliche Abhängigkeit und Ohnmacht gerade überwunden, soll nun die Idee von „meinem“ Leben machtvoll und unabhängig realisiert werden. Es ist quasi der Gegenpol zur kindlichen Art sicher zu sein. In dieser aktiven und kraftvollen jugendlichen Bewegung, ist kein wirkliches Innehalten und keine wertschätzende innere Rückschau möglich. Wir bewegen uns von Herausforderung zu Herausforderung und wenn wir zu oft scheitern fangen wir an daran zu leiden. Diese Bewegung begleitet die meisten erwachsenen Menschen auf der Suche nach ihrem Platz, Erfolg und Lösungen durch ihr Leben. 

Jetzt ist es an der Zeit die kindliche und jugendliche Art Überlebenssicherheit zu erlangen allmählig hinter uns zu lassen und zu entdecken, dass es sicher ist, sich ganz auf das Leben einzulassen. Gelassenheit wird dann nicht mehr mit Lähmung und Tod verwechselt, sondern zum Ausgangspunkt für authentische Lebendigkeit und echte Selbsterkenntnis.

Eine gute Möglichkeit ist es, das Leben selbst als Resonanzfläche zu nutzen, indem du Herausforderungen und „Hereinforderungen“ zu unterscheiden beginnst. Herausforderungen wollen gemeistert werden und manchmal braucht es ein paar Versuche, kein Problem. Wenn du allerdings feststellst, dass sich bestimmte Themen wie ein roter Faden durch dein Leben ziehen, sich auf ähnliche Weise wiederholen, du körperlich stark reagierst, dich Zweifel plagen, Zuversicht schwindet oder dich Gefühle wie Angst, Wut und Schmerz zermürben, dann nimm diese als „Hereinforderungen“ zu dir Selbst an. Das bedeutet, all dein Wissen, all deine strukturierte Lösungsorientierung, all deine Zielstrebigkeit bringen dich an diesem Punkt nicht mehr auf gewohnte Weise weiter. Im Gegenteil, es verschlingt nur zunehmend Lebensenergie und verhindert tiefere Selbsterkenntnis, wenn du es immer wieder auf diese Weise versuchst.

Das sind die Wehen der „geistigen Geburt“(n.W.Nelles) und wie jede Geburt ist sie begleitet von massiver Angst vor dem unfassbaren Neuen. Lassen bedeutet in diesem Sinne, sich selbst und die Welt trotz dieser Angst, mit allem was da ist, ganz geschehen zu lassen. In stiller Gegenwärtigkeit kann dieses bewusste und würdigende Sehen geschehen, in dem innere unbewusste Widerstände und Konflikte ihren Frieden finden.

Welche Resonanz das wohl in deinem Leben bewirkt?

Selbstbegegnungen mit Ralf Winkler